Autismus und das Trösten: Wenn Emotionen verunsichern
- Dr. Mitsche
- 17. Apr.
- 3 Min. Lesezeit
In der Arbeit mit autistischen Menschen zeigt sich immer wieder, dass soziale Interaktionen eine besondere Herausforderung darstellen können – insbesondere dann, wenn es um emotional aufgeladene Situationen geht. Eine solche Situation ist das Trösten.

Viele Menschen mit Autismus berichten, dass sie sich beim Trösten unsicher fühlen: Was wird von mir erwartet? Soll ich die Person umarmen oder berühren? Soll ich etwas sagen? Und wenn ja, was genau? Ist die andere Person überhaupt traurig? Diese Unsicherheit kann dazu führen, dass autistische Personen emotionalen Situationen eher ausweichen oder sie mit einer anderen Strategie bewältigen – zum Beispiel durch Lösungsvorschläge.
Trösten oder helfen?
Was neurotypische Menschen als "Trösten" erleben – zum Beispiel eine tröstende Umarmung, ein mitfühlender Blick oder beruhigende Worte – wird von autistischen Personen oft eher als "Hilfe leisten" interpretiert. Sie versuchen, eine Lösung zu finden, um das Problem der anderen Person zu beheben. Dies ist kein Zeichen von Gefühllosigkeit, sondern eine alternative Herangehensweise an ein komplexes soziales Geschehen.
Viele autistische Menschen fragen aktiv nach: "Soll ich dir einfach zuhören?", "Willst du darüber sprechen?", oder: "Möchtest du, dass ich dir bei etwas helfe?" Diese Fragen dienen nicht nur dazu, sich in der Situation zurechtzufinden, sondern zeigen auch den Wunsch, auf die Bedürfnisse des Gegenübers einzugehen.

Unsicherheit in der emotionalen Kommunikation
Ein zentrales Thema ist die Unsicherheit in der Interpretation emotionaler Signale. Autistische Menschen haben oft Schwierigkeiten, nonverbale Signale wie Mimik oder Körpersprache zu deuten. Gleichzeitig zeigt sich ihre eigene Mimik oft reduziert oder konstant, was wiederum von anderen als Distanziertheit oder Kälte fehlinterpretiert werden kann. Tatsächlich können autistische Personen Emotionen sehr intensiv erleben – die Art des Ausdrucks ist jedoch anders reguliert und weniger spontan.
Ein weiterer Zugang zum Trösten liegt im sogenannten "perspektivischen Abgleich": Autistische Menschen versuchen sich einzufühlen, indem sie an eine ähnliche Situation aus ihrem eigenen Leben denken und davon erzählen. Dieses Verhalten ist nicht selbstbezogen gemeint, sondern dient dem Versuch, über die eigene Erfahrung eine Brücke zum Gegenüber zu schlagen.
Fachlicher Hintergrund
Die Forschung zeigt, dass Theory-of-Mind-Prozesse – also die Fähigkeit, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer hineinzuversetzen – bei Menschen im Autismus-Spektrum anders funktionieren. Daraus ergeben sich Unterschiede in der sozialen Intuition und im spontanen Verhalten in sozialen Kontexten. Dennoch besitzen viele autistische Menschen eine ausgeprägte kognitive Empathie, also die bewusste Anstrengung, das Gegenüber zu verstehen und angemessen zu reagieren. Emotionale Empathie, also das automatische Mitempfinden, kann ebenso vorhanden sein, äußert sich jedoch oft auf andere Weise.

Wie kann ein hilfreicher Umgang aussehen?
Klarheit: Offene Kommunikation darüber, was in einer emotionalen Situation gebraucht wird, hilft beiden Seiten.
Keine Erwartungen an nonverbale Kommunikation: Autistische Menschen zeigen Mitgefühl oft anders, z. B. durch konkrete Hilfe oder durch Dasein.
Trösten kann auch heißen: Lösungen vorschlagen, praktisch unterstützen, da sein, zuhören oder einfach gemeinsam schweigen.
Kein "richtiges" oder "falsches" Trösten: Die Unterschiedlichkeit im Ausdruck von Emotionen darf Raum haben.
Für autistische Menschen ist Trösten oft keine intuitive Handlung, sondern ein bewusst gesteuerter Prozess. Es geht nicht um Gefühllosigkeit oder Desinteresse, sondern um eine andere Art, emotionalen Kontakt herzustellen. Wenn wir lernen, diese Unterschiede zu erkennen und anzunehmen, kann ein echter, gegenseitiger emotionaler Zugang entstehen – jenseits konventioneller Normen, aber nicht weniger wertvoll.
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